Viel mehr, als wir glauben: Nicht nur Gefühle sind uns in den Blick geschrieben – auch seelische und körperliche Eigenschaften, ja sogar unsere Identität. Von der Psychologie über die Medizin bis zur Raumfahrt – immer mehr Forscher nutzen die Botschaften, die unseren Augen stecken.
1956 veröffentlicht der exzentrische „Drogenautor“ Philip K. Dick die Kurzgeschichte „Minority Report“ – eine packende Story um paranormale Fähigkeiten und angekündigte Morde. Dick lässt sie im Jahr 2056 spielen, und die Welt, die er beschreibt, erscheint zu seiner Zeit wie pure Science-Fiction, ohne Bezug zur Realität: Die Menschen darin sind überall und jederzeit über ihre Augen identifizierbar – keiner kann den allgegenwärtigen Augen-Scannern im totalen Überwachungsstaat entwischen. 2002 kommt Steven Spielbergs Thriller „Minority Report“ in die Kinos, eine filmische Bearbeitung von Philip Dicks Kurzgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Nutzung der Iris im Auge als biometrisches Merkmal bereits auf dem Vormarsch. Schon 1998 erhielten Biathleten bei den Olympischen Winterspielen in Nagano nur per Augenscanner Zutritt zur Waffenkammer, in der die Gewehre aufbewahrt wurden. Routinemäßig müssen sich heute Mitarbeiter in den Hochsicherheitsbereichen der Flughäfen Frankfurt, London-Heathrow oder Amsterdam-Schiphol per Augenscanning identifizieren. Auch bei Grenzkontrollen in Dubai und Afghanistan werden Augenscanner eingesetzt. Und die Regierung von Indien plant derzeit, die Identität aller Einwohner des Landes (über eine Milliarde Menschen) per Augenscanning zu erfassen. Gut möglich, dass in naher Zukunft die Augen für uns alle zum genetischen Personalausweis werden. Doch was verraten sie über uns und warum?
Der Iris-Code: Warum macht er uns unverwechselbar?
Dass die bunte Regenbogenhaut um die Pupille herum bei jedem Menschen ein eigenes Muster aus Flecken, Furchen und Pünktchen aufweist, wissen Augenärzte schon lange. Hinweise darauf finden sich sogar in altägyptischen Medizinpapyri. Aber erst 1987 kamen die New Yorker Ärzte Leonard Flom und Aran Safir auf die Idee, diese Zeichen systematisch zu erfassen. Mithilfe eines von Harvard-Mathematiker John Daugman entwickelten Algorithmus wurde daraus der Iris-Code. Er stützt sich auf 260 individuelle optische Merkmale, deren Kombination jeden von uns unverwechselbar macht. Denn anders als beispielsweise die Augenfarbe entwickelt sich die Irisstruktur beim ungeborenen Kind völlig unabhängig von den Genen. Sie ist ein reines Zufallsprodukt, die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen das gleiche Muster haben, liegt bei null. Auch bei eineiigen, also genetisch identischen Zwillingen gibt es deutliche Unterschiede. Und sogar beim selben Individuum weisen rechtes und linkes Auge unterschiedliche Muster auf. Interessanterweise ist der Iris-Code aber in einem wichtigen Bereich weitgehend nutzlos: Für forensische Zwecke kann er kaum herangezogen werden. Denn anders als der Fingerabdruck zerfällt die Irisstruktur unmittelbar nach dem Tod. Zufall? Menschen mit spirituellem Weltbild könnten dieses Phänomen jedenfalls als vielsagende Parallele deuten: Sobald die Seele den Körper verlässt, zerfällt auch ihre leibliche Spur. Das Auge „bricht“, sagte man früher.
Sind große Augen „unschuldig“?
Tatsächlich gelten die Augen seit ältester Zeit nicht nur als Sinneswerkzeuge, sondern als direktes Ausdrucksorgan der Seele, unmittelbar verbunden mit unserer Persönlichkeit und unseren Gefühlen. „Sobald du in reine, leuchtende Augen siehst, wisse, dass solche Augen die Redlichkeit des Besitzers zeigen“, schreibt der antike Athener Philosoph Polemon um 300 v. Chr. Im gleichen Sinn notiert gut 2000 Jahre später der deutsche Denker Johann Gottfried Herder: „Die Gegend um Augen und Augenbrauen ist die Gegend des Winks der Seele in unserem Gesicht.“ Schon die Sprache verrät, wie tief die Gewohnheit in uns verwurzelt ist, andere Menschen nach ihren Augen zu verstehen. Da ist die Rede von gütigen, kalten oder ehrlichen Augen, neidischen, misstrauischen oder neugierigen Blicken; von Blicken, die töten können, und von solchen, die segnen. Die Versuche, in den Augen des Gegenübers zu lesen und seine Absichten darin zu erkennen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit. Immer wieder – von der Antike bis heute – sind physiognomische Systeme entstanden (Physiognomik = Gesichtsdeutung), die in Augenmerkmalen Hinweise auf charakterliche Eigenarten erkennen wollen. So gelten zum Beispiel sehr eng stehende Augen (G. W. Bush) traditionell als Hinweis auf einen rigiden Charakter; kleine runde bis mittelgroße Augen als Zeichen für wache Intelligenz; übergroße Augen (Heike Makatsch) werden von den meisten Menschen spontan mit einer arglosen, gefühlsbetonten Persönlichkeit assoziiert. Stehen die Augen eher weit auseinander, gilt das als Zeichen für Offenheit; tief liegende Augen (Bert Brecht) werden einem beobachtenden Geist zugeordnet. Sogar aus Unterschieden zwischen dem rechten und dem linken Auge lassen sich angeblich Botschaften herauslesen. Zugrunde liegt die in vielen Kulturen vertretene Ansicht, das rechte Auge entspreche unserer „männlichen“ Seite (der Ratio, der Willenskraft), das linke sei dagegen unser weibliches „Gefühlsauge“. Sind die Augen bei einem Menschen unterschiedlich groß oder wirkt das eine sehr viel lebendiger und offener als das andere, gilt das als Hinweis darauf, welche Seite mehr gelebt beziehungsweise welche vernachlässigt wird. Die moderne Wissenschaft hält wenig bis gar nichts von derartigen Rückschlüssen. Und auch schon vor Beginn des naturwissenschaftlichen Denkens erhoben sich kritische Stimmen. Obwohl er selber ein Meister im Lesen von Gesichtern war, warnte zum Beispiel Leonardo da Vinci vor schnell gefällten Urteilen. Und der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer meinte sinngemäß: Zwar steht vieles in unseren Augen geschrieben, aber wer sagt uns, dass wir es richtig lesen? So beruht zum Beispiel auch unsere spontane Assoziation von großen Augen mit „Unschuld“ wohl auf einer Art Missverständnis: Proportional überdimensionierte Augen sind ein Teil des „Kindchen-Schemas“, auf das alle Menschen unbewusst mit positiven, beschützenden Gefühlen reagieren. Hat auch ein Erwachsener noch solche kindlich-großen Augen, verdankt er das allein einem freundlichen genetischen Zufall.
Was verraten die Ringe um die Pupille?
Die Augen ein Spiegel der Seele – ist das also nur ein tief in uns verwurzeltes Vorurteil? Purer Aberglaube? Wohl doch nicht nur. Ausgerechnet vonseiten der Wissen schaft hat die alte Annahme von Zusammenhängen zwischen Persönlichkeit und Augen kürzlich Schützenhilfe bekommen. 2007 nahm der schwedische Psychologe Mats Larsson an der Universität Örebro die Augen von 400 Studenten unter die Lupe. Zuvor hatte er die jungen Leute sehr ausführlichen, wissenschaftlich standardisierten Persönlichkeitstests unterzogen. Bei jedem Einzelnen von ihnen schaute er sich anschließend die Iris an. Dabei fokussierte er sich vor allem auf zwei Merkmale: Ringe und Furchen. Ringe sind bei allen Menschen als Bogen oder geschlossene Kreise um die Pupille herum zu sehen, die linsenförmigen Furchen laufen wie Sonnenstrahlen von der Pupille fort. Zu seiner Überraschung entdeckte Mats deutliche Zusammenhänge zwischen der Anzahl und Dichte dieser Irismerkmale und der Persönlichkeit der Probanden. Je höher die Anzahl der „Strahlen“ um die Pupille, desto ausgeprägter waren beim jeweiligen Individuum Eigenschaften wie: Offenheit, Mitgefühl, Sensibilität. Zeigten sich im Auge dagegen gehäuft Ringe, handelte es sich überwiegend um spontane, impulsive Menschen, denen es im Leben auf schnelle Bedürfnisbefriedigung ankam. Eine Ursache für diese erstaunliche Parallele ist inzwischen ausgemacht: Es ist dasselbe Gen, das sowohl die Bildung der Iris wie die Entwicklung des vorderen cingulären Gehirncortex steuert. Dieser Bereich im Gehirn steht nachweislich in Verbindung mit solchen Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbstbeherrschung und Mitgefühl.
Warum ist Augen-Diagnose wichtig für Raumfahrer?
Die Erforschung der biologischen Zusammenhänge zwischen Auge und Charakter befindet sich noch in ihren Anfängen – dagegen gehört die Lehre von der Beziehung zwischen „Augenzeichen“ und körperlicher Gesundheit zum Grundwissen aller Medizinsysteme. Im indischen Ayurveda beispielsweise werden auch die Augen zur Bestimmung der „Doshas“ herangezogen – jener drei Lebensenergien, aus denen sich die körperliche und seelisch/geistige Konstitution des Menschen zusammensetzt. So interpretieren ayurvedische Ärzte kleine, unstete und etwas glanzlose Augen als Zeichen für (zu viel) Vata-Energie – also für ein begeisterungsfähiges, „luftiges“, bewegliches Temperament. Graue oder grüne, sehr lichtempfindliche und oft leicht gerötete Augen wiederum sprechen für das dynamische, „hitzige“ Temperament bei einer Pitta-Betonung. Die Augen eines ausgeprägten Kapha-Typs (ruhiges, ausdauerndes Temperament, starke Konstitution) sind groß, blau oder braun und glänzend. Bei Störungen wirken sie „schwer“ und dunkel. Auch in der westlichen Medizin gibt es ein sehr altes Augendiagnose-System, das angeblich ermöglicht, Organschwächen und Krankheitsdispositionen schon zu erkennen, ehe diese zu irreparablen Schäden geführt haben. Systematisch erforscht wurde die sogenannte Irisdiagnostik ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie arbeitet mit Karten, auf denen die Iris wie das Zifferblatt einer Uhr in verschiedene Segmente eingeteilt ist. Je nachdem, in welchem Bereich sich bestimmte Merkmale befinden, schließt der Iris-Diagnostiker zum Beispiel auf eine angeborene Disposition zu Nieren- oder Gallenschwäche oder auf eine Veranlagung zu psychischen Leiden. Die Irisdiagnostik wird von der Schulmedizin als falsch und sogar gefährlich abgelehnt, zumal sie nicht mit einheitlichen „Augenkarten“ arbeitet. Außerdem konnte ihre Aussagekraft in keiner bisherigen Studie überzeugend bewiesen werden. Unumstritten sind dagegen in der Schulmedizin diagnostische Anzeichen wie ein verfärbtes Augenweiß (Leberprobleme) oder Veränderungen in der Netzhaut (Diabetes, Blutdruckprobleme). Sogar die US-Raumfahrtbehörde NASA will jetzt die Möglichkeiten von Augenuntersuchungen nutzen. Unter Leitung des Medizinprofessors Rafat Ansari soll ein einfach handhabbares Diagnosegerät (Biofluid Sensor System) entwickelt werden, mit dem sich an Veränderungen im Augengewebe und in der Augenflüssigkeit eine ganze Reihe von Erkrankungen (möglicherweise sogar Alzheimer) sehr lange vor ihrem Ausbruch orten lassen. Grund, warum sich die NASA dafür interessiert: Bemannte Langstrecken-Flüge ins All rücken immer mehr in den Bereich der Möglichkeiten. Dann aber werden die Astronauten viele Jahre unterwegs sein, ohne optimale ärztliche Versorgung. Je besser etwaige Risiken vorab bekannt sind, desto besser kann für die lange Reise vorgesorgt werden.
Warum fürchten wir uns vor leeren Augen?
Augenfarbe, Augengröße, Irismerkmale, optische Zeichen im Augeninneren: Wir sind bestimmt noch weit davon entfernt, alle „Botschaften“ des Auges zu erkennen und zuverlässig zu verstehen. Noch komplexer wird es, wenn nicht allein das Aussehen der Augen, sondern auch ihre spontanen Bewegungen mit einbezogen werden. Wichtig für die zwischenmenschliche Kommunikation sind zum Beispiel Veränderungen der Pupille. Wir alle wissen: Bei starkem Lichteinfall wird die Pupille kleiner, bei schwachem Licht öffnet sie sich. Aber auch Emotionen wirken auf die Pupille – und diese Veränderungen können wir nicht willentlich steuern. Bei Interesse, Neugierde, Freude wird die Pupille größer, bei Männern kann sie sich beispielsweise beim Anblick einer begehrenswerten (oder nackten) Frau verdoppeln. (Oder auch beim Blick auf ein besonders gutes „Blatt“ beim Kartenspiel, weshalb Pokerspieler zur Tarnung gerne dunkle Brillen tragen!) Bei Frauen passiert die spontane Augenreaktion, wenn sie ein Baby sehen oder erotisches Interesse empfinden. Um letzteren Effekt zu simulieren, träufelten sich Frauen in früheren Zeiten sogar einen Extrakt aus der Tollkirsche in die Augen, der (wie viele Drogen) die Pupille groß macht. Nicht nur der Pupillenreflex gehört zur weltweit gesprochenen und verstandenen Sprache der Augen. Wir alle kennen (und fürchten) beispielsweise den „leeren“ Blick, den ein Gegenüber mitten im Gespräch bekommen kann. Sein Auge wird starr, schaut buchstäblich durch uns durch. Solche unbewegten, scheinbar festgefrorenen Augen wurden früher mit dem „bösen Blick“ assoziiert, in jedem Fall enthalten sie unerfreuliche Botschaften wie Desinteresse oder sogar Verachtung. Als ebenso unangenehm empfinden wir „stechende“ Augen: Sie sind intensiv – zu intensiv! – auf uns gerichtet und enthalten eine archaische Aufforderung zum Kampf. Auch bei Tieren kann man solche mit den Augen ausgetragenen Territorialkämpfe beobachten, oft – zum Beispiel bei Katzen – gehen sie dem eigentlichen Gerangel voraus. Mit einer noch subtileren Deutung von Augenbewegungen arbeitet NLP (neurolinguistische Psychotherapie), eine Form der Verhaltenspsychologie, die als Kurzzeittherapie oder als Methode der Selbsterfahrung eingesetzt wird. Danach lässt sich unter anderem an bestimmten spontanen Augenbewegungen erkennen, was im Inneren des Menschen abläuft – auch wenn er keinen Ton von sich gibt. Beispiele: Rufen wir aus dem Gedächtnis ein Bild ab, richten sich die Augen nach rechts oben; fantasieren wir uns bildlich etwas zusammen, gehen die Augen nach links oben. Bei akustischen Vorstellungen dagegen wandern die Augen nach unten. Solche „autonomen Augenbewegungen“ sind – sagen die Erfinder von NLP, der Mathematiker und Psychologe Richard Bandler und der Sprachwissenschaftler John Grinder – weltweit zu beobachten. „Schau mir in die Augen, Kleines“ – der unsterbliche Satz aus der ersten Synchronfassung des Filmklassikers „Casablanca“ bekäme in diesem Kontext einen etwas anderen Sinn: Schau mich an, damit ich sehe, was du fühlst (oder denkst)! Doch es gibt ein Paradox des Schauens, auf das zuerst der deutsche Soziologe Georg Simmel aufmerksam gemacht hat. Sobald man einen Menschen genau anschaut, um ihn zu durch-schauen, offenbart man sich immer auch selbst. Denn das Gegenüber wird diesen Blick unweigerlich seinerseits deuten – als freundlich oder hart, geringschätzig oder bewundernd.
Die Wirkung der eigenen Augen – Für immer ein Geheimnis?
Dabei bleiben uns die Sprache und die Wirkung unserer eigenen Augen stets verborgen. Fotos geben nur eine Momentaufnahme wieder, vor dem Spiegel sind wir immer Beobachter, lernen unseren „unbeobachteten“ Augenausdruck also nicht kennen. Sich selber in die Augen schauen geht eben nicht – und wäre doch sicher eine gute Methode der Selbsterkenntnis! Als Lösung des Dilemmas schlägt Autor Claus Peter Simon (in: „Die Ich-Formel, 15 Wege zu einem glücklicheren Selbst“, Piper, 2011) eine simple Lösung vor: Warum nicht einen (wohlwollenden) Freund bitten, ehrlich zu sagen, wie unsere Augen auf ihn wirken? Das könnte eine gute Möglichkeit sein, den eigenen „blinden Fleck“ mal auszutricksen!
Autorin: Sabine Schwabenthan