Erziehung, Vererbung, Hirnbeschaffenheit – oder doch der freie Wille? Warum wird der eine Mahatma Gandhi und der andere Adolf Hitler? Die „Systembiologie“ ist den letzten Geheimnissen auf der Spur.
„Der Mensch ist von Natur aus gut“, befand Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Vordenker der Aufklärung und Wegbereiter der französischen Revolution. Er widersprach damit entschieden der damals vorherrschenden Auffassung des britischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679): „Der Mensch ist von Natur aus böse.“ Nach Hobbes’ Ansicht war es nur einem strengen Herrscher möglich, das Böse in seinen Untertanen durch harte Strafen im Zaum zu halten. Was jedoch auch Hobbes nicht genau wusste: Was ist eigentlich gut und böse? Eine Frage, die bis heute diskutiert wird. Im Zweifel sind immer die anderen die Bösen. „Es hat noch niemanden gegeben, der sich selbst als böse bezeichnet“, weiß der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (44). Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht, gut und böse sind Kategorien, die eine Gesellschaft vereinbart. „Es ist nichts Objektives, sondern eine Zuschreibung“, bestätigt Peter-André Alt (50), Präsident der Freien Universität Berlin, in seinem Buch „Ästhetik des Bösen“. Gibt es wirklich keine objektiven Merkmale, nichts was über die jeweilige Zeit hinaus Gültigkeit besitzt? Prof. Hans-Ludwig Kröber (60) gehört zu den Menschen, die sich diese Frage täglich stellen. Er ist Deutschlands bekanntester Gerichtspsychiater und Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité: „So wie wir spontan etwas als schön oder eklig empfinden, so erleben wir auch bestimmtes Handeln als gut oder böse“, erklärt er. „Im Angesicht des Bösen sind wir fassungslos, empört, die Welt ist aus den Fugen – weil jemand sie bewusst zerstört.
Das Böse ist umso augenfälliger, je eindeutiger es darauf abzielt, ganz bewusst das Schöne, das Heile, das Kindliche, die Zukunft zu zerstören.“ Passende Namen fallen einem sofort dazu ein: Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot zum Beispiel. Die Gemeinsamkeiten solcher Massenmörder definiert der US-Psychoanalytiker Prof. Otto Friedmann Kernberg (83) so: eine Kombination aus narzisstischer Persönlichkeitsstörung, antisozialem Verhalten, sadistischer Aggression sowie extrem misstrauischer Grundhaltung. Das ist eindeutig und eigentlich nicht zu übersehen – trotzdem ist es für die meisten Menschen unvorstellbar. „Es gibt zwei Gruppen von Menschen“, hat Prof. Barbara Oakley, Zellforscherin an der Universität Michigan, festgestellt, „diejenigen, die schon mit dem Bösen zu tun hatten, und die, die es nicht hatten. Die es nicht hatten, können es sich nicht vorstellen. Sie glauben, dass mit genügend Empathie jedem Psychopathen zu helfen ist.“ Dass das leider meistens nicht klappt, wusste schon der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.): „Alles verdirbt, wenn der Geist dem Bösen anhängt.“ Aber was ist das Böse? Personifizierung hilft, auch in diesem Fall: Alle Kulturen und Religionen schufen Verkörperungen des Bösen, die Germanen hatten ihren Loki, die Hindus Dämonen wie Asura und Dakini, der Islam die Schinns, die Christen den Teufel. Alle diese Gestalten eint eines: Sie tun ihr böses Werk aus freien Stücken, niemand zwingt sie. Und trotzdem können sie nicht anders – sie sind halt so. Der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller (60): „Der psychopathische Charakter kann sich nicht in andere hineinfühlen, da er selbst keine Gefühle hat.“ Er weiß, was er tut, kann richtig von falsch unterscheiden, er verhält sich nur nicht entsprechend. Es ist für ihn reine Theorie. Dennoch, oder gerade deshalb, verhalten sie sich äußerst geschickt, viel geschickter als ihre Opfer, denen sie psychologisch haushoch überlegen sind. Haller: „Sie verstecken sich oft hinter der Maske des Charmeurs, präsentieren sich nach außen verständnisvoll, anpassungsfähig und loyal. Sie entwickeln großen Charme.“ „Erfolgreiche Psychopathen“ nennen Experten diesen Menschenschlag.