2020 wird ein Fantastisches Jahr. Endlich gelingt es Medizinern, den menschlichen Alterungsprozess drastisch zu bremsen. Selbst 100-Jährige stehen dann noch voll im Leben. Schon 2010 kam es zu einem ähnlich großen Durchbruch, als die perfekten Intelligenzpillen auf den Markt kamen. Dank ihnen kann sich jeder Käufer für immer in ein nahezu allwissendes Genie verwandeln.

Vor Bakterien und Viren muss ohnehin niemand mehr zittern – seit 2000 gibt es Superimpfstoffe, die ausnahmslos jeden Erreger in seine Schranken weisen. Und sollte doch einmal jemand wider Erwarten krank werden, stehen Roboterärzte rund um die Uhr mit Medikamenten bereit. Alle diese wissenschaftlichen Triumphe haben jedoch einen Schönheitsfehler: Sie sind nicht wahr geworden. 1964 nahmen sie erstmals auf dem Papier Gestalt an, als Forscher der US-Denkfabrik RAND Corporation ihre Vision der Zukunft vorlegten. Obwohl sie auf dem Feld der Medizin deutlich zu hoch gepokert hatten, gibt ihnen die Zeit an anderer Stelle durchaus recht. So wurde ein angekündigtes Satellitennetz ebenso Wirklichkeit wie selbst fahrende Autos, die heute zumindest als Prototypen existieren. Diese Treffer sind Nahrung für einen uralten Menschheitstraum – die Hoffnung, schon heute in die Welt von morgen blicken zu können.

Prophezeiung oder Prognose – wo ist der Unterschied?

Der Flug eines Vogelschwarms, die Form einer Leber, das plötzliche Funkeln eines Sterns – solche Phänomene galten jahrtausendelang als Zeichen, die Antworten auf irdische Fragen geben konnten. Spätestens im Zeitalter der Aufklärung gerieten Prophezeiungen dieser Art in Verruf. So polterte der französische Philosoph Voltaire im 18. Jahrhundert: „Der erste Prophet war der erste Schurke, der einem Dummkopf begegnete.“ Doch was bot Orientierung, wenn Himmelsdeutern und Organlesern plötzlich misstraut wurde? 1900 wies der englische Schriftsteller H. G. Wells einen Weg aus dieser Krise – mit der Forderung nach einer „Wissenschaft von der Zukunft“: An die Stelle von Prophezeiungen sollten Prognosen treten, in denen Forscher möglichst objektiv über bevorstehende Trends spekulieren würden. Die ersten Gehversuche auf diesem Feld sind aus heutiger Sicht ernüchternd. So trommelte der deutsche Journalist Arthur Bremer 1910 diverse Experten zusammen, die sich die Welt in 100 Jahren vorstellen sollten. Für das frühe 21. Jahrhundert rechneten sie mit Massen von Vakuumluftschiffen, die sie über den Himmel düsen ließen. Auch Häuser sollten künftig in der Luft schweben und so vom besseren Höhenklima profitieren. Künstler in aller Welt würden an pyramidengroßen Skulpturen feilen – zum Ergötzen des in großer Höhe vorbeifliegenden Publikums. Im Rückblick entpuppen sich die Vakuumluftschiffe und die fliegenden Häuser als Varianten des damals schon bekannten Zeppelins. Offenbar klebten die Autoren von 1910 viel zu stark an der Luftschiff-Euphorie ihrer Zeit, um sich eine Alternative auch nur vorstellen zu können. Immer wieder projizieren Zukunftsforscher die Technik ihrer Zeit einfach linear in die Zukunft und entwickeln auf diese Weise ihre Visionen. Ähnlich auch spätere Spekulationen über eine monströs übersteigerte Form der damals weitverbreiteten Rohrpost, die Menschen in riesigen Druckkabinen umherrasen lassen sollte. Schon der deutsche Physiker Albert Einstein warnte deshalb vor dieser Falle: „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“

Wie arbeiten moderne Zukunftsforscher?

Instinktiv spürten bereits die Menschen in der Antike, dass sie bei der Suche nach Wahrheiten nicht nur im eigenen Gedankengebäude suchen dürfen. Ihre Fragen richteten sie deshalb direkt an die Götter – oder besser gesagt an das Orakel von Delphi. Hier residierte die Priesterin Pythia, die in Trance das Wissen höherer Mächte verkündete. Moderne Zukunftsforscher können dieser nur schwer überprüfbaren Praktik der Weissagung wenig abgewinnen. Dennoch lebt Pythia in einer ihrer wichtigsten Techniken weiter: der sogenannten Delphi Methode. Dabei treten profane Experten an die Stelle des mystischen Orakels. Sie füllen Fragebögen aus, in denen sie die Chance künftiger Trends beurteilen. Später erhalten die Befragten einen Überblick über den Standpunkt ihrer Kollegen und dürfen basierend darauf ihre Antworten ändern. So wird idealerweise ein Konsens über die Zukunft erzielt, der mit einiger Wahrscheinlichkeit in die richtige Richtung deutet. Allerdings sinkt mit der Zahl der beteiligten Experten nicht zwangsläufig die Fehlerquote: Auch die eingangs erwähnten Prognosen der RAND Corporation basierten auf einer Delphi-Studie. Zusätzlich setzen Forscher heute verstärkt auf Computer, die sie mit möglichst vielen Daten aus der Vergangenheit füttern. Diese Technik funktioniert besonders gut bei Prozessen, die langfristigen Trends folgen. So werden laut aktuellen Modellen rund drei Viertel aller Menschen bis 2050 in Städten leben. Deutschland hat dann laut Statistischem Bundesamt nur noch 74 Millionen Einwohner – davon sind zehn Millionen mindestens 80 Jahre alt. Vom dann aktuellen durchschnittlichen Benzinverbrauch eines Autos (unter vier Litern) über die tägliche Internetnutzung (mehr als drei Stunden) bis hin zur Wohnfläche pro Kopf (fast 60 Quadratmeter) lässt sich so praktisch alles prognostizieren. Mit Computern wurde auch die berühmte Studie „Die Grenzen des Wachstums“ entwickelt. 1972 legte sie der Club of Rome vor und kündigte darin unumkehrbare Umweltschäden an, wenn die Menschheit an ihrem Wirtschaftskurs festhält. Seitdem wurde der Bericht regelmäßig überprüft und um neue Informationen ergänzt. Momentan rechnen die Autoren spätestens im Jahr 2100 mit einem globalen Kollaps. Nur ein nachhaltiger Tritt auf die Konsumbremse und deutlich weniger freigesetzte Schadstoffe könnten die Menschheit demnach vor schweren Turbulenzen bewahren. Diese Mahnung trifft international gesehen jedoch auf taube Ohren: Der Weltenergiebedarf steigt rasant weiter und wird sich bis 2050 mindestens verdoppeln.