Elitesoldat Chris Kyle erschoss im Irak-Krieg 255 Menschen. Einen Aufständischen traf er aus 1,9 Kilometer Entfernung. Jetzt hat er ein Buch über das Töten durchs Zielfernrohr geschrieben.

Als Chris Kyle im Frühjahr 2003 zum ersten Mal von seinem Vorgesetzten den Schiessbefehl erhielt, zögerte der damals 28-jährige Scharfschütze in den Diensten der USA. Die amerikanischen Truppen drangen im Irak in Richtung Bagdad vor. Kyle sollte mit seinem Gewehr aus sicherer Distanz auf dem Dach eines schäbigen Gebäudes aufpassen, als ein Marine-Bataillon in die irakische Stadt Nasiriya vordrang. Saddam Hussein war immer noch an der Macht. Als die Stadtbewohner auf die Amerikaner zukamen, um sie zu begrüssen, sah der Elitesoldat der Navy Seals durch sein Zielfernrohr, wie sich eine Frau mit einem Kind den US-Truppen näherte. In der einen Hand trug sie eine Handgranate. «Schiess!», rief Kyles Vorgesetzter.

In einem Interview mit BBC erinnerte sich Chris Kyle vor kurzem an die Szene. «Das war das erste Mal, dass ich jemanden töten würde. Ich wusste nicht, ob ich dazu in der Lage war.» Seine Feuertaufe sei nicht das gewesen, was er sich vorgestellt habe. Denn im Visier hatte er keinen irakischen Soldaten in Uniform. «Das ist eine Frau», dachte ich mir. «Wenn ich sie erschiesse, werden zu Hause in den USA die Anwälte auf mich zukommen und mir vorwerfen: ‹Du hast eine Frau getötet, du kommst ins Gefängnis.›» Kyle stammelte: «Aber …» Sein Vorgesetzter brüllte erneut: «Schiess!» Da krümmte Kyle seinen Finger und zog den Abzug. Die Irakerin liess die Granate fallen. Der Scharfschütze hatte zum ersten Mal einen Menschen getötet.

40 Tötungen in Falludscha

Chris Kyle leistete von 2003 bis 2009 im Irak Dienst. Mit 255 getöteten Feinden, von denen das Pentagon 160 offiziell anerkennt, ist der inzwischen in den Ruhestand getretene Scharfschütze der tödlichste Schütze in der Militärgeschichte Amerikas. «Nach dem ersten tödlichen Schuss war alles ganz einfach. Ich schaue durch das Zielfernrohr, nehme das Ziel ins Fadenkreuz und töte den Feind, bevor er jemanden von uns tötet», so Kyle in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie.

Alleine während der zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004, als die US-Marines in Strassenschlachten gegen mehrere tausend Aufständische kämpften, tötete Kyle 40 Iraker. Der Scharfschütze lag fünf Wochen lang auf einem seitwärts aufgestellten Kinderbett im obersten Stock eines vierstöckigen Gebäudes. Zuvor hatte Adelbert F. Waldron im Vietnamkrieg mit 109 Tötungen den Rekord gehalten. Der berüchtigte Marine-Scharfschütze Carlos Hathcock, Titelheld des Buches «One Shot, One Kill» (1990), hatte ebenfalls im Vietnamkrieg 93 Menschen erschossen. Den weltweiten Rekord hält Simo Häyhä, ein finnischer Soldat, der im Zweiten Weltkrieg 542 sowjetische Soldaten getötet haben soll.

Ein Cowboy aus Texas

Chris Kyle war vor seinem Einsatz im Irak ein Cowboy aus Odessa im Bundesstaat Texas. Er ritt berufsmäs-sig Rodeo und jagte in seiner Freizeit mit einem Schiessgewehr, das sein Vater – ein Sonntagsschullehrer – ihm geschenkt hatte, Hirsche und Fasane. Erst nachdem er in die Navy eingetreten war, realisierte er seine besondere Begabung als Scharfschütze. Er wurde in die prestigeträchtige Spezialeinheit der Navy Seals eingeteilt – in die Elitetruppe der US-Streitkräfte, die im letzten Mai auch Osama Bin Laden fing.

Die Aufständischen im Irak nannten Kyle wegen seiner Treffsicherheit in der Stadt Ramadi, wo er unter anderem eingesetzt wurde, «al-Shaitan Ramad» – den «Teufel von Ramadi» – und setzten ein Kopfgeld von 20000 US-Dollar auf ihn aus. «Da dachte ich mir: Zur Hölle, ja, was für eine Ehre», sagte Kyle dem Magazin «Texas Monthly», als er auf seine Berühmtheit im Irak angesprochen wurde.

Seine Navy-Seal-Kollegen gaben ihm den Übernamen «Die Legende». Seinen legendärsten Schuss gab er im Jahr 2008 in Sadr-City ab, als er einen irakischen Aufständischen mit einem Raketenwerfer nahe einem Armeekonvoi erspähte – in 1,9 Kilometer Entfernung. Aus dieser Distanz schoss er mit seinem 0.388-Kaliber-Lapua-Magnum-Gewehr und tötete den Aufständischen. «Gott blies diese Kugel und traf ihn», sagte Kyle später der «New York Post». Seine bevorzugte Waffe im Irak war allerdings eine 0.300 Winchester Magnum, ein Gewehr, das ursprünglich für die Büffeljagd in Nordamerika entwickelt worden war. Kyle perfektionierte sein Können, damit hochpräzise Weitdistanzschüsse abzufeuern. «Ich traf damit ein Ziel aus einer Entfernung von 1,6 Kilometern wie mit einem Laserstrahl», beschrieb er dem «Texas Monthly».

Zweimal angeschossen

Nach zehn Jahren im Dienste der Navy trat Kyle 2009 in den Ruhestand, «um seine Ehe zu retten», wie er selbst sagt. Er hat zwei Kinder, lebt heute
in Dallas, Texas, und hat seine eigene private Sicherheitsfirma, Craft International, gegründet. Seine Geschichte als Amerikas tödlichster Scharfschütze erzählt er in dem Buch «American Sniper». Kyle erhielt für seine Verdienste gemäss seinem Verlag HarperCollins wichtige militärische Ehrungen, nämlich drei Silver Stars und fünf Bronze Stars. Im Irakkrieg wurde er zweimal angeschossen und überlebte sechs Minenexplosionen auf den Strassen.

Bedauern kennt der Berufskiller keines. Dem «Texas Monthly» sagte er: «Es war meine Pflicht, den Feind zu erschiessen. Ich bedaure nur, dass ich nicht mehr Menschen retten konnte: Marines, Soldaten, Kumpels. Ich bin nicht naiv und ich verkläre den Krieg nicht. Die schlimmsten Momente meines Lebens passierten mir als Soldat. Aber ich kann mit gutem Gewissen Gott gegenübertreten, dass ich meinen Job getan habe.»

Quelle: aargauerzeitung.ch