Wenn ein Löwe ein Büffelkalb zerfleischt, ein Gepard ein Zebrafohlen reißt, regt sich im Menschen Mitleid mit dem Opfer. Doch ohne Raubtiere droht den Gejagten das Aussterben: Löwe, Wolf und Weißer Hai sind Garanten einer intakten Umwelt. Wo sie fehlen, ändert sich sogar das Klima.

Wenn es Nacht wird über der Savanne und der Löwe brüllt, rücken die Menschen näher zusammen und scharen sich ums Feuer. Dann ist die Stunde für Geschichten über mörderische Bestien gekommen und über den Mut tollkühner Männer, die sie bezwangen. Der persische König Schapur I. hat es mit Pfeil und Bogen getan, der Grieche Herakles hat sein Opfer gar mit bloßen Händen erwürgt, Ernest Hemingway bewies seine Tapferkeit mit einer großkalibrigen Büchse. Selbst heute noch gilt unter Massai-Kriegern nur der als Mann, der einen Löwen tötet.

So überaus erfolgreich waren die Jäger vergangener Zeiten, dass der König der Tiere Stück für Stück sein Reich verloren hat. Das ist nicht nur ein trauriger Verlust, sondern ein folgenreicher.

In Ghana etwa hat sein Verschwinden dazu geführt, dass Kinder weniger lernen und mehr Menschen hungern und öfter krank werden. Denn während die Löwen verschwanden, nahm die Zahl der Anubispaviane zu – um mehr als 350 Prozent in den letzten drei Jahrzehnten. Die Paviane rücken den Menschen auf die Pelle, bringen Krankheiten in die Siedlungen, fressen Gemüse und Früchte. Kinder müssen die wehrhaften und hochintelligenten Paviane vertreiben und auf die kleinen Felder aufpassen, statt in die Schule zu gehen.

Der Verlust der als perfekte Tötungsmaschinen gefürchteten Raubtiere entpuppt sich also als Pyrrhussieg. Und das nicht nur bei den Löwen. Überall auf der Welt gab es große Beutegreifer wie Tiger, Wölfe, Haie und Wale. Und überall verschwinden sie oder sind bereits Geschichte. Langsam wird klar, dass sie keineswegs nur hübsch anzusehen sind oder eine beeindruckende Trophäe abgeben. Sie nehmen eine Schlüsselrolle in der Natur ein, werden zu Gestaltern der Pflanzenwelt, sogar des Wetters und der Artenvielfalt in Ökosystemen. „Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie komplex Naturräume funktionieren“, sagt Volker Homes, Artenschutzexperte der Umweltstiftung WWF. „Sicher ist nur, dass die sogenannten Top-Prädatoren eine Rolle haben, die über das bloße Abschöpfen von Beutetieren hinausgeht.“

Die Hinweise dafür sind verstreut, finden sich aber auf dem ganzen Planeten. Im vergangenen Sommer haben amerikanische Wissenschaftler im Magazin „Science“ verschiedene Studien zu dem Thema zusammengeführt. Ihr Spektrum reicht dabei von Wölfen im Yellowstone, die Bibern helfen, über Jaguare, die Waldschützer sind, bis hin zu Walen, die etwas fürs Weltklima tun. Das klingt erst mal genauso überraschend wie die Tatsache, dass manchmal mit den Beutegreifern auch die Beute verschwindet. Aber die Zusammenhänge leuchten ein, wenn man weiß, dass zum Beispiel Wale durch ihren immensen Appetit Unmengen Nährstoffe aufnehmen. Über ihren Kot und ihr Ableben entziehen sie das Klimagas Kohlendioxid dem Kreislauf, denn der tote Wal versinkt in den Tiefen der Ozeane und mit ihm das gebundene Kohlendioxid.

Fällt ein Baustein aus, wirkt sich das auf die ganze Pyramide aus

Die Schlussfolgerung der Forscher aus den Studien verschiedener Prozesse ist denn auch alarmierend: „Der Verlust dieser Arten ist der tiefgreifendste Einfluss des Menschen auf die Natur“, heißt es in ihrem Communiqué. Was uns verlorengeht, ist demnach nicht einfach eine Art, sondern das gesamte ökologische Zusammenspiel. „Schlussendlich schützen diese Prädatoren und Prozesse auch den Menschen“, sagt William Ripple, Direktor des Oregon State University’s Trophic Cascades Program and Mitautor des Berichts. „Es geht nicht um sie, es geht um uns.“

Bevor der Mensch zum entscheidenden Faktor wurde, hatte jeder Lebensraum seinen Top-Prädator, dem eine Schlüsselrolle in dem Geflecht der dort stattfindenden Prozesse zufiel. Um zu verstehen, wieso diese Beutegreifer eine so wichtige Funktion haben, ist ein Blick auf die Nahrungskette hilfreich, denn die Welt folgt einem ehernen Grundgesetz: leben und leben lassen. Ausdruck davon sind Nahrungspyramiden, die zeigen, wer welche Position im Ökosystem hat. Der Fachmann unterscheidet dabei Produzenten, Konsumenten und Destruenten, also Pflanzen, die Blätter, Zweige und Wurzeln bilden, Pflanzenfresser, Fleischfresser, Parasiten und schließlich die tierische Müllabfuhr, die totes Material wieder zu Nährstoffen aufbereitet. Fällt ein Baustein aus, wirkt sich das auf die ganze Pyramide aus. Ein Dominoeffekt in der Natur. Auch dafür gibt es einen Fachausdruck: trophische Kaskade.

Die Spitze der Nahrungspyramide sind die großen Beutegreifer. Sie sind quasi konzentrierte Energie, denn mit jeder Stufe werden neun Teile Biomasse zum Aufbau eines Teiles benötigt. Das heißt aus zehn Kilo Gras wird ein Kilo Kuh und schließlich 100 Gramm Tiger.

Begehrte Trophäen und Rohstofflieferanten

Dem Menschen hat es noch nie gefallen, wenn ein anderes Tier ihm diesen Anteil streitig machte. „Seit jeher hat er die Nahrungskonkurrenten mit allen Mitteln gejagt“, sagt Professor Heribert Hofer vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin. „Und dieses Konkurrenzdenken gibt es selbst heute noch, wenn manche Jäger sich mit aller Macht gegen die Rückkehr der Wölfe stemmen.“

Daneben waren die Tiere als Trophäen und Rohstofflieferanten begehrt: Wal-Tran hat Europa mehr als ein Jahrhundert lang erleuchtet, Pelze von Robben oder Wölfen galten als schick, Tigerkrallen als angesagt.

Gleichwohl hat der Mensch gerade die großen Beutegreifer geehrt und gefürchtet, waren sie ihm doch in der Regel als Jäger haushoch überlegen: Sie konnten sich besser anschleichen, hatten schärfere Zähne, waren stärker und schneller und konnten beeindruckender brüllen. Kein Wunder, dass Könige, hohe Herren und selbst Produktdesigner gerne die Großkatzen als Beinamen führen: Richard Löwenherz, Tom Jones (von weiblichen Fans „Tiger“ genannt), Tiger Woods, Abbas (arabisch für Löwe), Achmed Schah Massud, der „Löwe von Panshir“, der deutsche Panzer „Tiger“ oder die Betriebssysteme von Apple, die „Löwe“, „Leopard“ oder „Tiger“ heißen.

Diese Popularität hat den Tieren freilich überhaupt nichts genutzt. Von geschätzten 400.000 Löwen in den fünfziger Jahren sind nur mehr zwischen 16.500 und 47.000 übrig. „Das Löwentöten der Massai geht übrigens auf die Briten zurück“, sagt der Biologe Hofer, „die Kolonialherren setzten bei den Massai-Kriegern durch, dass sie ihre Männlichkeit doch besser durch das Töten eines Löwen, als durch das Abschneiden der Hoden eines getöteten Feindes beweisen könnten.“

Heute sind die meisten Unterarten des Löwen bereits ausgestorben. Brüllte er einst sogar auf dem Balkan, in ganz Afrika und im ganzen Nahen Osten bis nach Indien, ist seine Herrschaft auf ein paar Refugien zusammengeschmolzen; in einigen Schutzgebieten in Afrika südlich der Sahara und im indischen Bundesstaat Gujarat streifen sie noch umher. Aber auch diese Inseln sind von unseren Gnaden.

Wenn der Tiger den Hirsch nicht frisst, regnet es weniger

Dem Tiger erging es nicht besser. 100.000 Tiger lebten noch um 1900 in Asien. Nicht zuletzt der Jagdwahnsinn britischer Kolonialherren machte ihnen den Garaus. Selbst Prinz Philip, der Mann an der Seite Königin Elisabeths, war in den fünfziger Jahren noch auf Tigerjagd. Heute ist es vor allem der Aberglaube an die Heilkraft von Tigerkörperteilen, der die Tiere gefährdet. Nur rund 3200 Tiger gibt es noch, schätzt der WWF.

Der Tigerschwund geht genauso wenig an den Ökosystemen vorbei wie der Verlust der Löwen; so jagen Tiger in erster Linie große Beutetiere wie Hirsche oder Wildrinder. Aber sie fressen auch Leoparden und Rothunde, wenn sie denn einen erwischen. Fehlt nun der Tiger, haben eben jene Leoparden und Rothunde bessere Überlebenschancen. Diese mittelgroßen Beutegreifer sind aber wesentlich weniger abhängig von großen Beutetieren. Kurz – sie fressen alles, vorzugsweise kleine und mittlere Happen, also auch den Nachwuchs großer Beutetiere.

Die Folge ist, dass seltene kleine und auch große Arten noch seltener werden können. Der Verlust des Tigers kann dadurch im schlimmsten Fall sogar zum Verlust einzelner Beutetierarten führen.

Und der Einfluss des Tigers geht unter Umständen noch weiter. Wenn große Beutetiere nicht gefressen werden und sich munter vermehren, fressen sie sich durch den Wald – zusammenbrechende Pflanzengesellschaften beeinflussen aber wiederum das Wetter einer Region. Auf die Spitze getrieben heißt das: Wenn der Tiger den Hirsch nicht frisst, regnet es weniger.

Auf einer Insel vor Venezuela haben Jaguare und Pumas den Wald beschützt. Seit sie weg sind, konnten Pflanzenfresser den Nachwuchs der Bäume so effektiv abfressen, dass aus dem dichten Wald ein lichter Hain geworden ist.

Es muss nicht immer der große Beutegreifer sein, der eine große Wirkung hat: Auf den Alëuten zum Beispiel verhindern Arktische Füchse das Graswachstum, indem sie Seevögel beziehungsweise deren Junge erbeuten. Weniger Seevögel bedeuten weniger Kot und damit weniger Dünger. Und so sorgen die Füchse – wenn auch indirekt – für den Erhalt des Ökosystems Tundra.

Nicht nur an Land lässt sich beobachten, was passiert, wenn die Spitze der Nahrungspyramide plötzlich fehlt. Auch im Meer spielen sich zahlreiche Dramen ab, wenn Beutegreifer ausfallen.

Der amerikanische Zoologe Robert Paine bemerkte schon 1966 die unkontrollierbaren Folgen, die ein ausfallendes Glied in der Nahrungskette haben kann: Seesterne in der Rolle des Top-Prädatoren ernähren sich von Muscheln, Seeigeln und anderen Schalentieren. Ohne die Seesterne vermehrten sich die Muscheln unkontrolliert und vertrieben alle anderen Tiere, bis auf die Seeigel, die auch noch den Korallen den Garaus machten.

Wenn eine Art fehlt, hat das Auswirkungen auf andere Arten. Eindrucksvoll zeigen das auch Seeotter vor der amerikanischen Pazifikküste: Die Säuger fressen gerne Seeigel. Sie haben ihre Technik perfektioniert, indem sie die stacheligen Happen auf dem Rücken schwimmend mit Steinen knacken. Wo die Seeotter aber wegen ihres Pelzes ausgerottet wurden, konnten sich die Seeigel ungestört vermehren und in den Kelp-Wäldern fressen. Wenn der Kelp aber rar wird, gibt es weniger Fischbrut.

Bei Haien ließ sich nachweisen, dass sie die Zahl der Rochen kontrollieren. Werden die Haie bis zum Ende gejagt, fressen die Rochen die Muschelbänke leer.

Der Wolf ist in Nordamerika zum Katalysator für die Vielfalt geworden

Allen Beispielen ist gemeinsam: Die Veränderungen vollziehen sich langsam, wenigstens in Jahrzehnten. Wir können die schleichenden Vorgänge kaum wahrnehmen und bemerken die Folgen erst, wenn es zu spät ist. Zumal wenn der Ausrottungsprozess selbst nicht plötzlich, sondern schleichend vonstatten geht, und wenn es wenige Vergleichsdaten gibt. „Zudem gibt es kaum Experimente dazu, in denen exakt ein Beutegreifer und nichts anderes aus dem System genommen wird“, so Heribert Hofer vom IZW.

Deswegen wissen wir in Europa auch nicht, inwieweit wir die Ökosysteme auf diese Weise schon beeinflusst haben. Die letzten Löwen wurden bereits in der Antike erlegt. Luchse und Wölfe konnten sich in Mitteleuropa immerhin bis Ende des 19. Jahrhunderts halten. Aber auch ihr Schwinden war schleichend.

Weil es in Nordamerika vergleichsweise weniger Menschen und mehr Raum für die Natur gibt, ist es dort einfacher, Ursachen und Folgen zu untersuchen. So gibt es Hinweise, dass Wölfe die Krankheit Borreliose zumindest eindämmen, indem sie die Hauptwirte der übertragenden Zecken in Schach halten. Ohne Hirsch keine Zecke, die den Erreger der Borreliose in sich trägt.

Im Yellowstone-Nationalpark in den Vereinigten Staaten zeigt sich, wie sich die Lebensgemeinschaft verändert, wenn Wölfe wieder durch den Wald streifen. 70 Jahre gab es dort keine Wölfe mehr, und die Natur schien auch ohne sie zurechtzukommen. Allerdings steckt der Teufel im Detail: Wapiti-Hirsche vermehrten sich ungestört. Sie knabberten munter die Weiden an den kleinen Bächen ab, die Espen in den Tälern, so dass die Ufer kahl wurden und Bäume kaum noch eine angemessene Höhe erreichten. Dadurch fehlten wiederum Nistplätze für Fische und Vögel. Ohne den Wolf vermehrten sich auch die Kojoten, die wiederum anderen Beutegreifern die kleinen, erreichbaren Nager wegschnappten.

Kaum dass die Wölfe 1995 wieder da waren, veränderte sich das Ökosystem erneut. An den Gewässern gediehen wieder Ufergehölze und in deren Schlepptau Fische, Enten und Biber. Bären, Raben, Adler profitierten vom Wolf, denn es waren wieder große Risse und damit große Fleischmengen verfügbar. Kurzum: Eine Art ist zum Katalysator für die Vielfalt des Yellowstone-Gebiets geworden.

„Wir können die großen Beutegreifer nicht einfach so ersetzen“

Das Beispiel zeigt aber auch, dass das System keine Einbahnstraße sein muss, und dass sich Lebensräume wieder fangen können. Aber gilt das auch für unsere heimischen Gefilde? Unsere Wälder mit ihren Reihen strammstehender Bäume, unsere Kulturlandschaft mit ihren Maisfeldern und vereinzelten Heckenstreifen, unsere Straßen – was kann der Wolf hier erreichen? Immerhin wüteten hierzulande gut 2000 Jahre lang die Vernichtungskampagnen. Erst jetzt darf er sich seinen Lebensraum zurückerobern.

„Unsere Kulturlandschaft ist schwer vergleichbar mit der Situation in Nordamerika“, sagt Ilka Reinhardt vom Wildbiologischen Büro Lupus. Die Biologin setzt sich seit Jahren gemeinsam mit Gesa Kluth für das Miteinander von Wolf und Mensch ein und begleitete die Wiederkehr des Wolfes von Anfang an. „Grundsätzlich gehören Wölfe als Gegenspieler für Reh-, Rot- und Schwarzwild einfach auch in unsere Ökosysteme. Doch ihr Effekt ist vergleichsweise gering, denn die Dichte menschlicher Jäger ist um ein Vielfaches höher als die des Wolfs. Vereinzelt wird es wohl zu Verhaltensänderungen des Wilds kommen. Dadurch kann für den menschlichen Jäger die Jagd schwieriger werden“, so Ilka Reinhardt. Rehe meiden wegen des Wolfs vielleicht die offenen Felder und nutzen wieder vermehrt „deckungsreiche Strukturen“. Unterm Strich sei Deutschland aber kulturell zu überformt und zu dicht besiedelt, als dass Wölfe wirklich wieder zu einem ökologischen Korrektiv, zum Regulator der Wilddichten werden könnten.

Das System ist also nicht einfach zu reparieren. Auch der Arterhalt im Zoo und spätere Auswilderung kann nur eine begrenzte Lösung sein. „Der Trend geht deswegen weg von der artfokussierten Sichtweise zu einer systemfokussierten“, sagt der Artenschutzexperte Volker Homes vom WWF. „So haben wir in Deutschland angefangen, eine Rote Liste für gefährdete Lebensgemeinschaften zu erstellen.“ Nur in geeigneten Großschutzgebieten könnten natürliche Prozesse erhalten werden. „Wir wissen immer noch viel zu wenig darüber, wie Lebensräume wirklich funktionieren. Aber klar ist auch, dass unser Versuch gescheitert ist: Wir können die großen Beutegreifer nicht einfach so ersetzen.“

Quelle: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,811037-2,00.html